Denkstandards diktieren uns, wie wir denken und was wir tun.
Meine Eltern haben geheiratet, weil man heiratet. Das macht man so. Machen alle so. Man heiratet, baut ein Haus und bekommt zwei Kinder. Genauso haben es meine Eltern auch gemacht.
Nehmen wir aber mal an, es würde so etwas wie heiraten nicht geben. Tun wir so, als würde diese Tradition einfach nicht existieren. Meine Eltern hätten es mit Sicherheit nicht erfunden. Sie wären bestimmt nicht auf den Gedanken gekommen, die eigene Beziehung mit einer Unterschrift offiziell zu machen, sich damit lebenslang an einen anderen Menschen zu binden, das Ganze in einem prunkvollem Gebäude im weißen Kleid und schwarzen Anzug vor Freunden und Familien zu feiern, sich ein rundes Stück Metall um den Finger zu ziehen und durch einen steuerlichen Trick noch etwas Geld zu sparen.
Doch weil die Hochzeit als anerzogener und gesellschaftlich vorgelebter Denkstandard tief in den Köpfen meiner Eltern verwurzelt ist, sind für sie alle, die zu Beginn ihrer Dreißiger noch nicht verheiratet sind Menschen, die sich aktiv gegen eine Hochzeit entschieden haben.
Werden wir noch etwas abstrakter und nehmen an, alle Menschen würden in Wohnmobilen leben. Es wäre völlig normal, sich mal hier und mal dort niederzulassen und sein Leben dort stattfinden zu lassen, wo man es aktuell am schönsten findet. Man lebt für eine Woche am Meer, für einen Monat am Waldrand und für ein Jahr in den Bergen. Das macht man so. Machen alle so. Wärst du der erste, der sich dafür entscheidet, die Reifen des Wohnmobils abzumontieren und fortan nur an einem Ort zu leben? Wärst du derjenige, der als erstes sein Wohnmobil einbetonieren lässt und es „Haus“ nennt?
Denkstandards sind von der Gesellschaft und dem eigenen Umfeld antrainierte Normen, kulturelle Gepflogenheiten und evolutionär bedingte Verhaltensmuster, welche wir als unangefochtenen Ausgangspunkt akzeptieren, sodass jede Abweichung von ihnen als ungewöhnlich oder normwidrig erscheint. Sie sind der Grund, warum viele Menschen denken, dass Männer keine Kleider tragen, dass man seinen Vorgarten pflegt und dass man seine Fingernägel schneidet. Das macht man so. Machen alle so. Im Alltag des realen Lebens kann man mit diesen Denkstandards existieren ohne anzuecken, doch in der Markenentwicklung sorgen sie für Einheitsbrei und die immer selbe Kacke.
In der Markenentwicklung muss man Denkstandards durchbrechen.
Heutzutage hat jedes Unternehmen eine Mission und eine Vision. Das steht so im Lehrplan des Marketingstudiums. Jeder hat einen Slogan oder einen Claim sowie Werte und Grundsätze, um sich von anderen zu unterscheiden. Das macht man so. Machen alle so. Doch etwas zu machen was alle machen, um sich von genau diesen zu unterscheiden, ist in etwa genauso sinnvoll, wie sich ein schwarzes Metallica Shirt zu kaufen, um auf dem Rockkonzert als auffälliger Kanarienvogel zu gelten.
In der Markenentwicklung ist es wichtig Denkstandards als solche zu identifizieren und sie bewusst zu hinterfragen. Nur weil alle etwas machen, heißt es nicht, dass es für dich sinnvoll sein muss. Nur weil etwas im Marketingstudium gelehrt wird, heißt es nicht, dass du es so machen musst. Oft ist das Gegenteil der Fall. Ist es wirklich so, dass ein Unternehmen einen Claim braucht? Ist es wirklich so, dass man nur ein Logo haben darf? Wer sagt, dass man nicht „Inkompetenz GmbH“ heißen, Rechnungen auf Toilettenpapier verschicken, oder pinke Baskenmützen als Firmenkleidung etablieren kann?
Natürlich sollte man nicht um jeden Preis auffallen und sich nur normwidrig verhalten um anders zu sein. Solange es auf deine Zielmarke einzahlt, kann es jedoch durchaus sinnvoll sein, seinen aktuellen Kontostand in Echtzeit auf der Webseite zu teilen, den eigenen CEO konsequent öffentlich als „Big Boss“ zu bezeichnen oder ein giftgrünes Einhorn über die Webseite tanzen zu lassen. Wichtig ist also, mögliche Denkstandards in seinen eigenen Entscheidungen zu finden, diese auf ihre Wirkungskraft hin zu untersuchen und zu hinterfragen.
Wir starten immer mit einem weißen Blatt Papier.
Jede Markenentwicklung ist zunächst ein großes Nichts, das von uns gefüllt werden kann. Wir sind an keinerlei Normen gebunden, um unsere Arbeit durchzuführen. Niemand zwingt uns, bestimmte Schritte einzuhalten, Pflichtaufgaben von einer Checkliste abzuhaken oder Dinge so zu machen, wie alle sie machen. Wir Menschen tun dies leider nur automatisch und erkennen oft nicht, dass wir etwas tun, was uns andere antrainiert haben.
Für die Beitragsreihe „How to: Werbeagentur“ möchten wir jede Leserin und jeden Leser bitten, alles – wirklich alles – was sie glauben in Bezug auf die Themen Markenentwicklung, Marketing, Werbung, etc. zu wissen, komplett aus ihren Köpfen zu streichen. Jeder einzelne Beitrag basiert weder auf altbekanntem Wissen, noch auf Dingen, die halt alle anderen so machen. Jede Theorie und jeder Zusammenhang ist von Grund auf neu gedacht. Die Beitragsreihe „How to: Werbeagentur“ programmiert die Festplatte quasi neu.
Selbstverständlich wird es Überschneidungen zu bekanntem Wissen geben. Es geht hier nicht darum anders zu sein, um anders zu sein. Altbewährtes Wissen ist altbewährtes Wissen, doch nicht jeder einzelne Gedanke ist unbedingt sinnvoll, nur weil alle anderen ihn haben.